Startseite | Arbeiten | Biographie | Kontakt 
 zurück 




































Wiepersdorfer Kasten

Rauminstallation
Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf
Juli 2010



Dreifach gedrehter Quader im Raum verkantet.
Sechs Ecken berühren je eine Wand, die Decke und den Boden des Raumes.

Quadermaße: 690 x 345 x 220 cm
Raummaße: 800 x 600 x 400
Material: mit Nessel bespannte Rahmen aus Latten


Geometrische Körper gegen die Vertikalität und Horizontalität zu stellen, ist eine der Strategien von Susken Rosenthal, das Verhältnis des menschlichen Körpers zum Raum zu thematisieren. Die beiden für die menschliche Existenz so wichtigen Prinzipien werden in verschiedenen Projekten auf diese Weise ins Bild gesetzt, so dass sie durch die Gegenrichtung einerseits in Frage gestellt werden und andererseits in ihrer existenziellen Notwendigkeit bestätigt werden. Der Mensch ist ein vertikales Wesen. Jede Verunsicherung dieser Grundbefindlichkeit rührt an seinen Grundfesten. Und wenn man - wie Joachim Ringelnatz - "etwas schief ins Leben gebaut" ist, dann heißt das, dass man mit dieser naturgegebenen Ordnung, die sich auch als Herrschaftsinstrument lesen lässt, nicht so ganz zurechtkommt.

Im "Wiepersdorfer Kasten" von Susken Rosenthal geschieht diese "Schiefstellung" sowohl modellhaft wie auch tatsächlich – modellhaft, weil sich alles im geschützten und für Experimente offenen Ausstellungsraum abspielt, tatsächlich, weil dadurch der Ausstellungsbesucher gezwungen wird, sich in besonderer Weise zu verhalten. Man kann geradezu von einer erzwungenen Choreographie sprechen, die der Besucher nach Vorgabe der Künstlerin nolens volens zu vollführen hat. Der Kasten ist ein Prototyp, an dem experimentell untersucht wird, auf welche Weise sich minimalistisch-monumentale Eingriffe in Raum und Architektur auf den Menschen und sein Verhalten und Empfinden auswirken. Dinge, Räume und Situationen werden aus ihrer gewohnten Ordnung gebracht, jedenfalls aus einer Ordnung, die unserem Verständnis und Gefühl für das richtige Maß und die richtige Richtung entsprechen.

Solcherart Verunsicherung ist allerdings kein Selbstzweck. Vielmehr geht es um eine spezifisch ästhetische Erkenntnis, die sich allein aus der Erfahrung und dem Umgang mit räumlichen Erlebnissen gewinnen lässt, in denen der menschliche Körper in seiner Leibhaftigkeit die wichtigste Rolle spielt.

So komplex der strategische Ansatz ist, so einfach erscheint die formale Konstellation. Ein geschlossener Quader wird in einen quaderförmigen Ausstellungsraum schräg verkantet. Der Raum ist der Vertikalität und der Horizontalität verpflichtet. In seiner Proportion und Funktionalität entspricht er menschlichem Maß und Erfordernissen. Mithin kann man von Architektur sprechen. Es ist ein so genannter "white cube", eine einfache "Schachtel", die in ihrer Neutralität sich nicht selbst in den Vordergrund schiebt, sondern ganz der Funktion als Ausstellungsraum genügt: weiß und rechtwinklig. So soll das ausgestellte Werk zu seiner vollkommenen Wirkung kommen, ohne dass man als Betrachter vom Raum und seiner Ausgestaltung abgelenkt wird.

Wenn man nun in diesen Raum die gleiche Figur - einen Quader - einbringt, so entstehen vielfältige Veränderungen. Will man einen Quader in einem Quader so einbringen, dass er nicht rechtwinklig den äußeren Körper nur bestätigt, sondern sich ihm entgegenstellt, führt das zu einigen technischen und ästhetischen Komplikationen. Die Ecken des inneren Körpers müssen die Innenflächen des äußeren Raumes an bestimmten Stellen berühren, um dort fixiert zu werden. Dabei soll jede Raumfläche mit einer Ecke des eingebrachten Körpers berührt werden. Damit ist jede der acht Flächen, einschließlich Boden und Decke, durch das Artefakt des Quaders besetzt. Die Berührung geschieht zwar nur an einem Punkt, aber damit ist keine der inneren Raumflächen mehr frei. Diese geometrische Spielregel bewirkt die allumfassende Einnahme des Raumes und konstituiert ihn als ein ästhetisches Gebilde.
Da ein solcher Körper sechs Seiten aber acht Ecken hat, geht hier eine gewisse Symmetrie und sogar &Aml;hnlichkeit verloren. Es bleiben zwei Ecken "in der Luft" hängen. So sehr es sich also um zwei gleiche Körper handelt, so sehr behindern sie sich in dieser spezifischen Konstellation gegenseitig. Die Größe des inneren Körpers ist direkt abhängig von der Größe des äußeren Raumes. Wenn aber Ausstellungsraum und Ausstellungsexponat in so unmittelbarer Beziehung stehen, bleibt für weitere Relationen kaum Platz. Die entstehenden Negativräume zwischen äußerem Raum und innerem Körper sind selbst aber geometrische Figuren von eigener Bedeutung. Diese Zwischenräume fixieren wie Keile den inneren Quader und distanzieren ihn zugleich von den äußeren Raumflächen.
Unmittelbar spürbar wird dies für den Betrachter, weil für ihn nur noch dieser spärliche "Restraum" als Bewegungsraum übrig bleibt. Er ist außerhalb des schrägen Körpers und zugleich eingefangen in einem Inneren.
Der Ausstellungsraum verliert seine Bedeutung als Architektur, da er, indem das Ausstellungsexponat nahezu den gesamten Raum okkupiert, kaum noch begehbar ist. Der das Ausstellungsobjekt umfassende Raum ist selbst Teil des Werkes. So bedingen sich, bei aller gegenseitigen Behinderung, innerer und äußerer Raum. Ohne den äußeren Raum, wäre der innere Körper nicht existenzfähig. Und ohne den inneren Körper wäre der äußere Raum ein bloß neutrales, nichtssagendes Behältnis.

Der Körper verstellt den Raum. Er verweigert und verhindert. Er verweigert die Übersicht und er verhindert die freie Bewegung. So ist das Werk zugleich unwirklich, weil optisch in seiner Ganzheit nicht erfassbar und unwirtlich, weil es nur mit Mühe zugänglich ist. Aber nur dann, wenn man den Raum leibhaftig betritt und sich in ihm bewegt, kann man eine Ahnung von den Proportionen bekommen und die körperliche Wirkung erfahren. Diese Wahrnehmung beinhaltet auch eine Erkenntnis über das eigene, nicht mehr so selbstverständliche Dasein in den Kategorien von Vertikalität und Horizontalität. Der Körper ist abhängig vom Raum. In der Relation von Raum und menschlicher Figur entwickelt sich durch eine solche Versuchsanordnung ein Spannungsverhältnis. Susken Rosenthal ermöglicht damit eine sinnliche Erfahrung, in der die diskursive Erkenntnis ästhetisch überflügelt wird.

Prof. Dr. Ferdinand Ullrich
Kunstakademie Münster und Direktor der Museen der Stadt Recklinghausen